Liebe Freunde des Dharma und alle, die es noch werden (wollen)!

Es wurde an mich das Ersuchen herangebracht, in der Zeit, die ich in Indien an heiligen Orten und zu  Füßen Verwirklichter zubringe, mich zu üben im Verfassen von Rundbriefen, die monatlich erscheinen sollen. Also greife ich die Bitte auf und lade Dich/Sie recht herzlich ein, mit mir ein paar Gedanken lang gemeinsam des Weges zu wandern.

Das Thema des ersten nun begonnenen Schreibens beschreibt in kurzer Form die Geschichte vom außergewöhnlichen Milarepa, dem Yogi aus Tibet, dessen Geschichte wohl jedes kleine Kind aus Tibet mit großen Augen verschlingt und dessen Botschaften und Texte in allen Schulen des Tibetischen Buddhismus hochgeschätzte Verehrung finden. Ich selbst hatte die große Gnade, die Übertragung einiger Schriften Milarepas, zu denen eben auch die Lebensgeschichte gehört, von seiner Heiligkeit dem 14. Dalai Lama in seinem Tempel zu bekommen. Möge die Geschichte auch in so kurzer und unzulänglicher Form wie dieser zur Inspiration des Lesers werden.

"Wie einer, der zur fernen Stadt hinstrebt, der Augen bedarf, um den Weg zu sehen, wie er der Füße bedarf, um die Entfernung zu überwinden, so braucht jeder, der sich nach der Erfüllung des Nirvana sehnt, Augen der Weisheit und Füße der Lehre." (Prjna-Paramita)

Wir Abendländer vergessen nur zu leicht, dass in Indien und China schon zu einer Zeit, in der in Europa noch barbarische Zustände herrschten, bereits alte Hochkulturen, von denen heute nur noch Überreste zu existieren scheinen, in voller Blüte waren. Nicht ohne Grund blieben diese für das damalige Europa "unentdeckt".

Nun, da es vielen Menschen aus dem Abendland durch die Entwicklung der Technik möglich gemacht wurde, den Orient leicht zu besuchen, gibt es in zunehmendem Maße die Möglichkeit, das reiche und unermessliche Erbe dieser Kulturen langsam zu erforschen.

Milarepa war der Herz-Schüler des großen Marpa, der auch "Marpa der Übersetzer" genannt wurde. Marpa unternahm mehrere längere Reisen ins ferne Indien über die hohen Gipfel des Himalaya auf seinem Yak, um dort die Lehren, die zur Befreiung und zur Glückseligkeit führen, die Lehren Shakyamuni Buddhas, von großen verwirklichten Meistern selbst zu studieren und in seine Sprache zu übertragen.

Er suchte den großen Verwirklichten Tilopa, den Nachfolger von Naropa, auf und bat inständig um die Übertragung der Lehren, die zum Wohle aller führen. Die Geschichte Marpas zeugt von großen Mühen, die von ihm aufgewendet werden mussten, um das, was er von seinem Guru (Lehrer) gehört hatte, aufzuschreiben und dann in weiterer Folge zu verstehen. Mit größten Mühen brachte Marpa eine Sammlung von Schriften nach Tibet und vervollständigte diese nach mehreren Reisen nach Indien zu seinem Guru.

Milarepa wurde in eine arme Familie in Tibet geboren, verlor sehr früh seinen Vater und musste als kleiner Junge mitansehen, wie die Verwandten seine Mutter in die Enge trieben, nach und nach den ganzen Familienbesitz, die Felder und Tiere an sich rissen, bis selbst das Überleben der kleinen Familie nicht mehr garantiert war. Das schlimmste für ihn war aber, mitansehen zu müssen, wie seine Mutter von den Verwandten misshandelt und geschlagen wurde.

Also beschloss er eines Tages hinauszuziehen, um sich die nötigen Fertigkeiten anzueignen, um seine Mutter zu rächen. Er suchte also einen Lama auf, der ihn die schwarze Magie lehrte. Er war ein gelehrsamer Schüler und hatte in drei Jahren genug gelernt, um seine Vorhaben ausführen zu können. Er kehrte zum Haus seiner Mutter zurück und machte seinem Ärger Luft.

Damit kein falscher Eindruck entstehe, kam er auf einem Besen geflogen und ließ bereits beim Annähern an seine Heimat ein gewaltiges Donnerwetter vom Himmel herab. Er sah den Besitz seiner Verwandten und der Zorn übermannte ihn augenblicklich. Er ließ durch ein gewaltiges Erdbeben die Häuser und Ställe seiner Verwandten einstürzen. Der Himmel öffnete seine Schleusen und ein gewaltiger Niederschlag und ein Schneesturm verwüsteten die zu erwartende Ernte gründlich. Die angrenzenden Grundstücke der Nachbarn blieben jedoch verschont und unangetastet. Als alles gründlich verwüstet war, suchte er seine Mutter auf und war erstarrt von dem Anblick, den sie ihm bot. Schwer verarmt und leidend, kauerte sie im Trümmerhaufen des zuvor von den Verwandten verwüsteten Hauses. Inständig bat sie ihn, kein solches Vorgehen mehr zu erwägen, denn nun sei ihre Situation  schlimmer denn je geworden. Sie fürchtete die Rache der Verwandten sehr und sah sich ausgeliefert und verloren. Inständig bat sie ihren Sohn Milarepa, ihr nicht mehr weiter zu schaden und das Weite zu suchen.

Milarepas Zorn legte sich beim Anblick seiner Mutter, die er über alles liebte, und es überkam ihn immenses Grauen und eine große Reue ob seiner gerade begangenen Taten. Er musste erkennen, dass er mit seinem Zorn sein Ziel weit verfehlt hatte, seiner Mutter also keine Hilfe war und wirklich alles nur noch schlimmer gemacht hatte. In dieser ausweglosen Situation stieß er voll Inbrunst aus der Tiefe seines Herzens einen Schrei aus, der alles erzittern ließ. Daraufhin beschloss er, einen anderen Lehrer aufzusuchen, der ihm das wahre Dharma lehren möge, um das Angerichtete wieder gut zu machen.

Milarepa verließ zu Fuß noch einmal seine geliebte Heimat, wissend, dass er nicht mehr zurückkommen würde ohne das wahre Dharma gelernt zu haben, das die Kraft hat, alles Leiden aller fühlenden Wesen in Glückseligkeit umzuwandeln.

Milarepa machte sich also wieder auf den Weg, verließ erneut seine Heimat und alles, was ihm lieb war, um seiner hoffnungslosen Situation eine andere Wende zu geben. Bereits auf dem Weg, hörte er von einem Lama (Lehrer), der die Lehren des Buddha selbst auf mehreren Reisen nach Indien zu seinem Lehrer gesammelt und übersetzt habe und bekannt sei für sein Wissen und sein über alle Maßen gutes Herz. Schon allein beim Vernehmen der Erzählung spürte Milarepa ein großes Verlangen in seinem Herzen, diesen Lehrer zu sehen und wenn es sein wollte, von ihm in die Lehre genommen zu werden, damit sein Leben einen Sinn bekäme.

Milarepa wurde die Richtung gewiesen und so machte er sich zu Fuß auf die beschwerliche Reise, über mehrere Bergketten, bis er in das Tal kam, in dem dieser Lehrer, Marpa, wohnen sollte. Hier in einem kleinen Ort, am Wegrand, sah er einen Bettler, der noch ärmer schien als er selbst. Als er seine offenen Wunden sah, überkam ihn Mitgefühl mit dem armen Mann und er machte sich auf, um für ihn einiges an brauchbaren Utensilien zur Wundpflege sowie Nahrhaftes zu erbetteln. Als er ihm dann seine Wunden pflegte und ihn mit dem Wenigen, das er erbetteln konnte, fütterte, sagte der andere Bettler zu Milarepa: "Du hast ein gutes Herz, das wird Dich noch weit führen." "Du sprichst als wärest Du ein Weiser, alter Mann", sagte Milarepa. "Weißt Du denn, wo ich Marpa den Übersetzer finden kann?" "Oh ja", erwiderte der Alte, "Du wirst ihn finden. Geh einfach Deinem Herzen nach. Dann kannst Du ihn nicht verfehlen." "Ja, aber weißt Du denn, wo Marpa zu finden ist?", setzte er nach, doch die Sprache des Alten wollte nicht mehr so recht. So machte er sich, ohne weitere Erklärungen von ihm erfahren zu haben, auf den Weg.

Im nächsten Ort angekommen, fragte Milarepa sich durch und erfuhr die Richtung, in der er Marpa finden könnte. Als er einen Bauern sah, der mit seinen Ochsen das Feld bestellte, rief er ihm zu, ob er den berühmten Marpa den Übersetzer kenne, und ob er wisse, wo er ihn finden könne. Dieser kam langsam näher und deutete ihm die Richtung, beschrieb den Hof, auf dem Marpa wohnte und dass es nur noch ein paar hundert Meter seien.

Nun konnte sich Milarepa vor Freude nicht mehr zurückhalten und jubelte aus vollem Herzen laut los. So weit war er gereist und es war recht beschwerlich gewesen, doch nun hatte er es geschafft. Er war am Ziel seiner Träume angekommen. Im letzten Ort hatte sich Milarepa eine Vase erbettelt, die er seinem neuen Lehrer als Geschenk überbringen wollte und so lief er den Berg hinauf und vergaß ganz, sich vom Bauern zu verabschieden.

Marpa wusste von seinem Schüler und dessen Kommen und manifestierte sich als alter Bettler mit offenen Wunden, um zu sehen, ob Milarepa die Voraussetzung des Mitgefühls mitbringen würde. Dann manifestierte er sich als einen anderen Bettler und Kumpanen, um den klaren Verstand von Milarepa zu überprüfen und als letztes manifestierte er sich als Bauer, voll der Vorfreude, endlich seinen Schüler begrüßen zu dürfen, auf den er schon so lange mit Sehnen gewartet hatte und auf dem all seine Hoffnungen aufbauen würden.

Als Milarepa nun an die Tür des Lehrers Marpa klopfte, öffnete ihm dessen Frau und vertröstete ihn, Marpa sei gerade nicht zu Hause, er möge doch später noch einmal kommen. Milarepa wollte sich vor Aufgeregtheit nicht abweisen lassen und wartete vor dem Stall auf das Ankommen Marpas.

Stunde um Stunde verging und dennoch wurde ihm das Warten nicht lange. Als der Abend einkehrte, klopfte er nochmals an die Tür. Diesmal sagte die Frau Marpas, er sei zu beschäftigt, um ihn jetzt zu empfangen. Sie wies ihm einen Schlafplatz im Stall bei den Tieren an und riet ihm, morgen wieder zu kommen. Am nächsten Morgen wurde nun also Milarepa vorgelassen, betrat das Zimmer Marpas, machte drei Niederwerfungen und offerierte ihm die Vase, sein Geschenk an den Lehrer. Marpa rezitierte gerade einen Text und fand es nicht der Mühe wert, seinen Blick zu heben. Als Milarepa ihm die Vase hinhielt, winkte er nur mit der Hand, er solle sie dort ablegen und dann hinausgehen. Milarepa tat wie ihm angewiesen und als er wieder vor der Tür war, überkam ihn eine große Enttäuschung. Das war also die so überaus wichtige und entscheidende Begegnung mit dem großen Marpa gewesen, der ihn nicht einmal eines Blickes gewürdigt hatte. Die Enttäuschung war so groß, dass er sich nicht sicher war, ob er das Richtige getan hatte. Die Frau Marpas kam dann nach einiger Zeit ins Freie und Milarepa wollte mit ihr sprechen, aber diese wies ihn nur ab und deutete an, er habe ja bereits seinen Platz im Stall bekommen, den er, wenn er wollte, auch diese Nacht nützen könne, falls er es noch weiterhin probieren wolle. Milarepa versuchte es tags darauf wieder, zum Lehrer vorgelassen zu werden, doch vergeblich. Der Hunger plagte ihn und so offerierte er Marpas Frau seine Mithilfe. Diese wies ihm Arbeit an; im Gegenzug würde er freie Kost und den Schlafplatz im Stall bekommen, solange er gute Mithilfe leisten würde.

So vergingen die Wochen und die Monate. Milarepa sah in regelmäßigen Abständen die Schüler Marpas, Mönche in größeren und kleineren Gruppen, von fern und nah, zu Belehrungen und Einweihungen kommen. Zuerst fragte er, ob er mit ihnen hineinkommen dürfe, um den Belehrungen beizuwohnen, aber dies blieb ihm untersagt. "Hast Du denn Geschenke anzubieten?", war die Frage, die er zurückbekam, bevor die Tür vor seiner Nase zufiel. Er beobachtete durch das Fenster die Mönche, wie sie Niederwerfungen machten und Marpa goldene Gefäße, große Säcke mit Gerste, große Gefäße mit Ghee, holzgeschnitzte Altarobjekte, Statuen aus Gold und viele andere Kostbarkeiten anboten für die Belehrungen und Einweihungen im Gegenzug. Dann saßen sie Marpa in Gruppen zu Füßen und blieben oft tagelang, wurden von Marpas Frau gut und ausreichend verköstigt und schliefen in Betten, auf Matratzen. Sie waren gut gekleidet und hatten alles, was man braucht. Doch all das war nicht so schlimm auszuhalten. Es war vor allem die Glückseligkeit auf ihren Gesichtern, wenn sie Marpa wieder verließen, die ihn mitten ins Herz traf - darum beneidete er sie über alles. Diese Glückseligkeit wollte er auch und er ließ nichts unversucht, um eben auch bei diesen Belehrungen dabei sein zu dürfen. Er wollte das Dharma studieren und war fest entschlossen, alle Schikanen auf sich zu nehmen. Wenn Marpa die anderen empfing, warum sollte er ihn, Milarepa, den Bettler, nicht auch empfangen? Er erkannte, dass er Wertgegenstände auftreiben musste, um vorgelassen zu werden. Aber die Arbeit, die er am Hof Marpas ausführte, brachte kein Geld ein. Wie sollte er also zu Wertgegenständen kommen? Was er auch unternahm, um die Frau Marpas dazu zu bewegen, ihm Geld zu geben, damit er für seinen Lehrer etwas kaufen konnte, sie blieb bei ihrer ursprünglichen Abmachung. So verging ein Monat nach dem anderen. Eines Tages ging Milarepa die Geduld aus und er wusste nicht mehr, wie er Marpas Frau beschwichtigen sollte. Sie war hart wie Stahl und blieb bei ihrer ursprünglichen Abmachung. Also sah sich Milarepa gezwungen, den Hof zu verlassen, um im Dorf betteln zu gehen und zwar so lange, bis er ein für seinen Lehrer würdiges Geschenk erbettelt hätte.

Tief im Innern bezweifelte er gleich seinen Schritt, den Hof verlassen und die Dienste bei Marpa aufgekündigt zu haben, doch die Logik der ausweglosen Lage trieb ihn guten Mutes voran. Er könnte eben nichts anderes als ehrlich zu betteln, auf seine Künste der schwarzen Magie wollte er keinesfalls zurückgreifen, denn diesen hatte er bereits beim Verlassen seiner Mutter abgeschworen. So schlug er sich nun Tag um Tag im Dorf und in der Umgebung durch. Er vermisste oft die Wärme des Schlafplatzes im Stall und das sichere Essen, das er aufgegeben hatte. Oft verbrachte er den Tag ohne Essen und ohne Schlaf die Nacht.

Nach einigen Wochen des Herumtreibens, gelang es ihm endlich, einen Messingbecher zu erbetteln. Stolz auf seinen neu errungenen Reichtum, begab er sich zum Haus Marpas. An der Tür sagte er der Frau Marpas, er wolle seinem Lehrer ein wertvolles Geschenk machen und bitte, vorgelassen zu werden. Es dauerte aber einige Zeit bis Marpa ihn empfangen wollte. Voll großer Hoffnung, nun endlich ein würdiges Geschenk für seinen Lehrer vorweisen zu können, der vermeintliche Schlüssel zu den Belehrungen zugelassen und als Schüler Marpers angenommen zu werden, machte er drei Niederwerfungen vor Marpa, brachte ihm den Messingbecher dar und fragte ihn, ob er sein Lehrer werden wolle. Marpa sah ihn tief durchdringend an, sah den Messingbecher an und fragte ihn dann langsam, ob er eine Vorstellung davon habe, wie wertvoll das Dharma sei, das ihn in einem einzigen Leben zur vollständigen Erleuchtung führen könne? Milarepa wurde sich augenblicklich seiner Lage bewusst und eine altbekannte Ausweglosgkeit schien sich wieder bei ihm breit zu machen. Sofort warf er sich auf den Boden und jammerte, er sei ein armer Bettler und er könne nichts anderes anbieten als das, was er erbettelte. Er sähe seinen Fehler ein, die Dienste bei ihm aufgekündigt zu haben, um sein Glück zu versuchen und er möge ihn wieder einstellen, damit er für ihn arbeiten könne, denn sonst habe er nichts, was er noch anbieten könne. Marpa ließ seine Frau hereinholen und wies Milarepa ein letztes Mal seinen alten Schlafplatz und die Arbeit am Hof an.

Glücklich wie noch nie zuvor, bezog er seinen Schlafplatz und erledigte ohne jeglichen Widerwillen die ihm angewiesene Arbeit - Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat. Als sich ihm nach geraumer Zeit doch wieder die Frage aufdrängte, wie es denn mit ihm weitergehen sollte, denn der Winter kam nun bald herein und er habe noch keine einzige Belehrung von seinem Lehrer bekommen, während die anderen Schüler nach wie vor in regelmäßigen Abständen kamen und gingen. Wieder dachte er sich Möglichkeiten aus, Zugang zu bekommen und so fing er einen der Schüler ab, fragte ihn nach den Abläufen und was er meinte, was ihm denn den so tief ersehnten Zugang zum Dharma verschaffen könnte. Dieser erzählte ihm im Gegenzug von seinem Lehrer, der nur ein Tal weiter wohnte. Jener habe ihn hierher gesandt, um die Einweihungen zu bekommen und sein Lehrer sei ein großer Lehrer, mit großen Realisationen und einem unermesslichen Mitgefühl. Er liebe seinen Lehrer über alles, denn dieser sei so unendlich freundlich...

In dieser Nacht überkam Milarepa die Idee, dass er wohl diesen Lehrer aufsuchen und ihn kennen lernen müsse, ohne dass es hier jemand merkte. Milarepa entkam unbemerkt im Dunkel der Nacht und legte die Distanz ohne große Mühe im Laufschritt zurück, um sicher rechtzeitig, bevor Marpa des Morgens seine Praxis begann, wieder zurück zu sein. Als er bei dem Lehrer im  benachbarten Tal vorstellig wurde, redete dieser nur von den überaus großen Realisationen Marpas, seiner schier unbegrenzten Freundlichkeit, und dass jener Bodhichitta entwickelt habe. Milarepa war rechzeitig zurück. Diesmal merkte keiner, dass er weggewesen war und er versprach sich auch nicht bei dem anderen Lehrer, denn wer weiß, was das für Unannehmlichkeiten bringen könnte, wenn jemand von seinem Ausflug und seinen Bemühungen erführe, bevor er sich selber sicher war. Also beschloss er, den Ausflug in der darauf folgenden Nacht zu wiederholen und diesmal seine Bitte vorzubringen.

Als er nun so einfach zu später Stunde bei dem benachbarten Lehrer vorsprechen konnte, getraute er sich, diesen um seine Hilfe zu bitten. Er, Milarepa, sei einfach nicht reich genug, um ein geeignetes Geschenk für seinen Lehrer erstehen zu können und bei seinem letzten Besuch habe er diesen schönen großen Edelstein auf dem Altar gesehen, ... "Bitte gib mir doch diesen Edelstein, wenn Du so großes Mitgefühl hast, damit ich als Schüler von Marpa anerkannt werde", bat ihn Milarepa inständig. Dieser übergab ihm den Edelstein ohne zu zögern und wünschte ihm viel Glück. Milarepa rannte mit dem geschenkten Schatz unter seinem Arm nach Hause und verbarg ihn unter seinem Kopfkissen aus Stroh. Er dachte sich listig, das würde nun bestimmt genügen, um Marpa zu überzeugen, ihn nun das Dharma zu lehren. Sollte dies jedoch wieder nicht wirken, würde er sich wohl einen anderen Lehrer suchen müssen.

Am nächsten Tag bat er, bei Marpa vorgelassen zu werden, warf sich dreimal nieder und brachte ihm den Edelstein dar mit der Bitte, ihn mit den anderen Schülern gleichzeitig das Dharma zu lehren und ihm Einweihungen zu geben. Marpa, der die Voraussicht hatte, dass Milarepa die ihm angewiesene Reinigungszeit nicht überstehen würde ohne der Verzweiflung zu verfallen, und ihn nun nicht mehr begründeterweise hinhalten konnte, antwortete ihm, er würde Belehrungen bekommen, aber vorher müsse er noch eine Aufgabe erledigen. Milarepa war tief glücklich über die Antwort seines Lehrers. Noch nie zuvor hatte er ein so tiefes Glücksgefühl erfahren. Nun wäre alles gut, Milarepa fühlte sich angenommen und endlich tauchte die Hoffnung auf, als Schüler den anderen gleichgestellt zu werden. "Baue mir ein Haus aus Stein", befahl ihm Marpa, "mit rechteckigem Grundriss, bei dem du jeden Stein eigenhändig und allein heranzutragen hast. Lass dir ja nicht von jemand anderem dabei helfen! Ich könnte dies nicht akzeptieren und die ganze Arbeit wäre dann umsonst gewesen."

Am nächsten Tag machte sich Milarepa überglücklich an die Arbeit. Er brauchte nun nur mehr ein Haus aus Stein für seinen Lehrer Marpa zu bauen, dann würde er endlich im Dharma unterwiesen werden, das die Befreiung von allen Leiden und die Möglichkeit der vollständigen Erleuchtung in nur einem Leben verspricht. Endlich war ein Ende der Warterei in Sicht und endlich gab es konkrete Aussicht für ihn, sein Leben sinnvoll zu machen und das Dharma zu lernen.

Es war also ein gutes Jahr vergangen, seit Milarepa seinen Lehrer Marpa getroffen hatte und nun begann er die Arbeit am Haus aus Stein voll Elan und mit der Gewissheit - der Unterweisung gemäß, dass es nur noch geringe Zeit in Anspruch nehmen würde bis er sein ersehntes Ziel Realität werden sehe. Jeden Morgen begab er sich frohen Mutes zur körperlich schweren Arbeit, seinem Lehrer zu dienen und abends legte er sich befriedigt nach getaner Arbeit ins Stroh, um dann morgens wieder früh aufzuwachen, um wenig Zeit zu verlieren und den Bau so schnell er konnte weiterzutreiben. So vergingen die Wochen und Monate, bis Milarepa, endlich den Bau beendet, vor seinen Lehrer trat. "Gut gemacht, gut gemacht", lobte ihn dieser und vergaß nicht hinzuzusetzen: "Nun bringe die Steine wieder dorthin, wo du sie her hast - auf die gleiche Weise, eigenhändig und alleine, und lass Dir ja von niemandem helfen!"

Milarepa machte sich ans Werk, trug das gesamte Haus wieder ab, Stein für Stein beförderte er eigenhändig an seinen ursprünglichen Ort zurück. Danach erschien er wieder vor seinem Lehrer, welcher ihn lobte: "Gut, gut gemacht. Nun baue mir ein Haus aus Stein mit dreieckigem Grundriss,und lass Dir bestimmt von niemandem helfen", befahl er ihm diesmal. Milarepa machte sich auch diesmal an die Arbeit und erledigte sie zur Zufriedenheit seines Lehrers. Er durchlebte hierbei aber unmenschliche Härten und kam wieder einmal am Ende seiner Kräfte und seiner Belastbarkeit an. Doch wiederum gelang es ihm, seinen Geist zu meistern. "Gut, gut gemacht", lobte ihn der Lehrer, "nun bring jeden einzelnen Stein genau wieder dorthin, wo du ihn her hast." Als Milarepa auch dies erledigt hatte, erschien er wieder vor seinem Lehrer, welcher ihm eine dritte Aufgabe gab, bevor er ihm das Dharma lehren wollte: "Bau mir ein Haus aus Stein mit rundem Grundriss", ordnete er an, "und pass auf, dass dir auch diesmal niemand dabei hilft."

Nun hatte Milarepa eine schwere Zeit, diesen Auftrag guten Mutes anzunehmen. Sein Körper war zerschunden, voll von Frostbeulen und ausgezehrt durch die harte und übermenschliche Belastung durch das unentwegte Schleppen der Steine, jahrein, jahraus und eben auch durch den ganzen letzten, besonders harten Winter hindurch. Er fühlte sich krank und am Ende seiner Kräfte angekommen. So saß er entmutigt am Eingang zum Stall, wo ihm der Gedanke kam, dass es jetzt schon egal sei, all die Mühen, die er bislang auf sich genommen hatte, haben ihn nicht zum gewünschten Ziel gebracht und sein Leben würde nichts mehr wert sein, würde er jetzt noch die Richtung ändern. Also entschloss er sich, komme was auch wolle, er wolle so lange für seinen Lehrer seine Kraft einsetzen und ihm dienen bis er das ersehnte Ziel erreiche oder eben bis der Tod ihn einhole, was immer auch früher kommen möge. Er ersehnte die Erlösung durch den Tod. So begab er sich erneut an die Arbeit und war entschlossen, bis ans Ende zu gehen.

Als er wieder ein Jahr später den Bau beendet hatte und vor seinem Lehrer stand, lobte er ihn dieser wieder: "Gut, gut gemacht. Nun bring die Steine wieder dorthin zurück, wo du sie her hast", ordnete er noch wie nebenbei an. Milarepa brachte aus letzter Kraft und mit seinem von Eiterwunden geplagten Körper alle Steine wieder dorthin, wo er sie zuvor gefunden hatte. Einzig der Gedanke an die Vergänglichkeit des Lebens hielt ihn noch aufrecht. Er war sich nun nicht mehr sicher, ob sich etwas von all seinen Träumen jemals verwirklichen würde, ob er das Dharma erlernen würde, ob er ein würdiger Schüler sein würde, ob er überhaupt Belehrungen bekommen würde oder ob er den nächsten Tag überhaupt noch erleben würde. So stand er vor seinem Lehrer, ausgeschunden, mit eitrigen Wunden übersät, am Ende seiner Kraft angekommen. Dieser sagte ihm, er solle sich zunächst erstmals ausruhen und essen und dann wiederkommen, wenn die anderen Schüler zur Belehrung kommen würden.

Den anderen Schülern gegenüber vergass Marpa niemals zu erzählen, wie unermesslich ausdauernd, fleißig und vorbildhaft Milarepa das Wichtigste zuerst lernte: Vertrauen! So diente Milarepa schon zu dieser Zeit allen anderen als große Inspiration und als großes Vorbild, noch bevor er seine erste offizielle Dharma-Lektion erhielt.

 

Dies war nun eine bis zur Unkenntlichkeit verkürzte Version der Geschichte Milarepas, wie dieser seinem Lehrer begegnete und wie er die erste Zeit bei ihm zubrachte. Natürlich bekam er dann das Dharma gelehrt, wurde zum Musterschüler und verbrachte in einem strengen Retreat all die Zeit, die er benötigte, um zu den vollständigen Verwirklichungen zu gelangen und die letztendliche, vollständige Erleuchtung zu verwirklichen. Jede einzelne kurze Geschichte aus dem Leben Milarepas ist eine große Inspiration bis zum heutigen Tag für Praktizierende des Pfades zur Erleuchtung. Auch für die generell Interessierten eines spirituellen Weges kann Milarepa zur tiefen Inspiration werden.

(von gehörten Erzählungen aus dem Munde seiner Heiligkeit des Großen 14. Dalai Lama, kurzgefasst aus der eigenen lückenhaften Erinnerung vom unwürdigen und fehlerbehafteten Sonam Gyatso, Bodhgaya, am 14.12.08)